Assoziationen

05.02.2020

Salih Jamal erzählt im Roman Orpheus eine moderne Kriminalgeschichte. Das geht schon aus dem Klappentext hervor. Was ich aber auch spannend finde, sind die vielen Assoziationen, die der Roman bei mir weckt. Über die griechische Mythologie, über die Musik gehts hin zu anderen Dichtern oder andern Musikern.

Ich bin in Kapitel acht angekommen und durchaus etwas verwirrt - wegen der vielen Ereignisse aus unterschiedlichen Erzählperspektiven.

Damit ist es Zeit, mal zurückzublättern zu Kapitel 1, falls ich da was verpasst hab.

Ich guck mal auf die Musik. Jedem Kapitel im Roman "Orpheus" ist ein zur Stimmung passendes Musikstück zugedacht. In Kapitel 1 ist das ein ziemlich übler Ohrwurm, nämlich "Those were the days, my friends" und zwar in der Version von den Leningrad Cowboys. In dem zugehörigen Clip gehen sie in Paris mit einem Esel in eine Bar. Alle, vielleicht sogar der Esel, der aber auch ein Eseleinhorn sein kann, haben diese typische Haarfrisur, nur bei den Cowboys sehen die Schuhe auch so aus.

Das kann man sich ansehen - passend zum Roman gibt es eine Playlist auf YouTube. Warum die Leningrad Cowboys mit dem Esel ausgesucht wurden? Keine Ahnung, aber eine Assoziation, nämlich die vom ebenso dummen wie gierigen König Midas, der mal Schiedsrichter war in einem Sängerwettstreit, eine falsche Entscheidung traf und dafür mit Eselsohren bestraft wurde. Ein anderer Musiker, im Roman als Johann SeBEASTian Bach bezeichnet, hat über diesen Wettstreit eine Kantate geschrieben.

Der Protagonist O. singt selber, ohne Wettstreit, dafür im tiefsten Leid am besten. Und sogar sein Onkel Dino bescheinigt ihm, dass

seit sie nicht mehr da war, meine gebrochene Stimme dem Blues eine Tiefe gab, die bis zur dunkelsten Stelle der Welt hinabsteigen würde. Einen Blues, der einen umschlänge, zerquetsche, erwürge und aus allem Traurigen die Hoffnung presse.

Das ist stark und passt - der echte Orpheus singt egal vor wem, auch vor Steinen und Bäumen und sogar noch als sein Kopf schon abgeschlagen ist. 

Allerdings singt der O. nicht Those were the days, sondern Philomenes Lied. Da weiß ich jetzt überhaupt nicht, was das ist. Ich habe aber wieder eine Assoziation, möglicherweise eine ganz falsche, aber so ist das halt mit den Assoziationen. 

Mir fallen da nämlich Philemon und Baucis ein. Und nie ist deren Geschichte schöner auf Deutsch beschrieben worden, als im Damen Conversationslexikon aus dem 19. Jahrhundert. Da kommt jetzt auch gar nicht der Orpheus drin vor, sondern sein Großvater Zeus und man erfährt etwas darüber, wie der sein konnte:

Philemon und Baucis (Mythologie). In einem Dorfe voll wohlhabender Einwohner, so erzählt Ovid, lebte ein armes, aber zufriedenes und durch Eintracht und Liebe glückliches Ehepaar, Philemon und Baucis. Zu jenem Dorfe wandelten einst in Menschengestalt Zeus und Hermes wie bisweilen die Himmlischen thaten, um die Sterblichen zu versuchen. Die Götter klopften an alle Thüren, bittend um Aufnahme für eine Nacht, doch keine öffnete sich. Nur die Aermsten des Orts nahmen die Fremdlinge auf, und trugen willig herbei, was ihre Dürftigkeit vermochte. Dankbar segneten die Götter das frugale Mahl, und immer von Neuem füllte sich von selbst der Weinkrug. Da erkannten die Gatten, daß ihre Gäste Unsterbliche seien, und beteten sie an. 

Nun offenbarte sich der Gott der Götter gnädig und zürnend zugleich. Er führte die alternden Gatten auf einen Hügel, von dem sie sahen, wie schwellende Wasserfluthen heranbrausten und alle Häuser des Ortes und alle Bewohner verschlangen. Nur die Hütte des gastlichen Paares blieb stehen, und wölbte sich zum säulengetragenen Göttertempel. 

In diesem ferner den Göttern dienen zu dürfen und dann vereint zu sterben, ist Alles, was Philemon und Baucis erflehen, und gnädig gewährte der Göttervater diese fromme Bitte. 

Lange Jahre lebten als treue Hüter des Tempels die beiden Treuverbundenen, bis ihnen im hohen Greisenalter das Ende nahte. Aber Keines von beiden sah das Andere sterben, sondern zugleich wurden beide in starke Bäume, Philemon in eine Eiche, Baucis in eine Linde verwandelt, die vor dem Tempeleingang standen; und so umfingen sie einander mit dem Gezweig noch liebend nach der Verwandlung, und es rauschte das Lob der Gottheit durch die flüsternden Blätter.*

Bei Ovid geht es um Tugenden, sei nicht geizig, sei nicht gierig, und um Verwandlungen, die auch Metamorphosen genannt werden. So wie die Raupe zum Schmetterling wird. 

Und der Dichter Ovid hat solche Metamorphosen auch über den Enkel von Zeus, eben über Orpheus geschrieben. Zum Beispiel die über Orpheus und Eurydike - bei der die Metamorphose des Orpheus unvollständig bleibt. Im Gegensatz zu Eurydike kommt er ja raus.

Im Roman bis Kapitel acht bleibt die Metamorphose des O. auch unvollständig. Er hatte sich etwas Wichtiges vorgenommen, was ihn für immer verwandelt hätte, aber schon in Kapitel sechs lamentiert er:

Hätte ich nur nicht in letzter Sekunde gekniffen. (...) Ich war zu feige gewesen (...).


Über Orpheus haben schon ganz viele Dichter geschrieben, z.B. Rilke seine Sonette an Orpheus. Hier ein schönes:

Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose

nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.

Denn Orpheus ist's. Seine Metamorphose

in dem und dem. Wir sollen uns nicht mühn

um andre Namen. Ein für alle Male

ist's Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht.

Ist's nicht schon viel, wenn er die Rosenschale

um ein paar Tage manchmal übersteht?

O wie er schwinden muß, daß ihr's begrifft!

Und wenn ihm selbst auch bangte, daß er schwände.

Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,

ist er schon dort, wohin ihr's nicht begleitet.

Der Leier Gitter zwingt ihm nicht die Hände.

Und er gehorcht, indem er überschreitet.


Ein Zwischenfazit von mir:

Zeus neigt dazu, dich zu versuchen. Er kann voller Gnade sein und voller Zorn. Wenn du etwas über ihn weißt, lass dich zu nichts hinreißen. Vor allem nicht, wenn es jemanden gibt, mit dem du gemeinsam entweder leben oder sterben willst. Wie Philemon und Baucis, wie Orpheus und Eurydike. Wie O. und Nienke.

*Quelle: Damen Conversations Lexikon, Band 8. [o.O.] 1837, S. 197-198. Permalink:https://www.zeno.org/nid/20001758284.

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